Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter October 8, 2022

„Wir sind ärmer geworden und müssen uns darauf einstellen“

Ein Gespräch über die Verteilung der Lasten aus der Energiekrise, Green Finance, Polarisierung, Corona-Politik und die internationale Unternehmensbesteuerung

  • Clemens Fuest EMAIL logo

PWP: Herr Professor Fuest, die Corona-Pandemie ist noch nicht ausgestanden, da stecken wir schon in der nächsten Krise, ausgelöst von Russlands Überfall auf die Ukraine. Ökonomisch ist dies für uns bisher vor allem eine Energie(preis)krise. Die Regierung schnürt deshalb ein Entlastungspaket nach dem anderen. Wer soll das am Ende bezahlen?

Fuest: Die Botschaft, der Staat federe die Lasten schon ab, ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen kann man das Problem der realen Knappheit von Gas nicht dadurch überwinden, das man den Gaskunden finanziell hilft. Zum anderen kann sich der Staat zwar verschulden und sollte das in gewissem Umfang auch, aber dadurch verschwinden die Lasten nicht. Die Schulden müssen bedient werden, und ohne sie wären Spielräume in der Zukunft größer. Im Fall der aktuellen Energiekrise gilt: Wir sind ärmer geworden und müssen uns darauf einstellen. Diese klare Botschaft ist unpopulär, aber notwendig. Dabei sollte man es allerdings auch nicht übertreiben. Die deutsche Volkswirtschaft ist resilient und wird diese Krise überstehen. Die derzeitige Häufung von Krisen, verbunden mit neuem Ausgabenbedarf etwa in der Rüstung oder beim Klimaschutz, belastet die Staatsfinanzen allerdings erheblich. Künftig wird der Druck steigen, weniger prioritäre Staatsausgaben zu kürzen oder Steuern zu erhöhen.

PWP: Erwarten Sie, dass das zu Verteilungskonflikten führen wird?

Fuest: Ja. Und von politischer Seite kommt dazu die Forderung, dass die „starken Schultern“ die Last tragen müssen[1]. Dabei wird allerdings übersehen, dass fiskalische Umverteilung schon vor den aktuellen Krisen eine wichtige Rolle spielte. Die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gehört seit langer Zeit zu den weithin akzeptierten Grundprinzipien der Steuerpolitik – die Abwägung zwischen Effizienz- und Verteilungszielen allerdings auch. Die tatsächliche Verteilung der Lasten ist letztlich etwas, was in jeder Gesellschaft immer wieder ausgehandelt werden muss. Als Finanzwissenschaftler muss man aber durchaus fragen, ob es dazu kommen wird oder dazu kommen sollte, dass die fiskalischen Mehrkosten allein oder primär von den starken Schultern getragen werden.

PWP: Und, was sagen Sie, wird es oder sollte es dazu kommen?

Fuest: Diese Frage habe ich mir gemeinsam mit Koautoren in einer aktuellen Studie gestellt[2]. Methodisch sind wir in dieser Untersuchung so vorgegangen, dass wir ein Standardmodell der optimalen Umverteilungspolitik betrachten und fragen, was passiert, wenn eine Regierung plötzlich mehr Geld braucht, um Schulden zu bedienen oder öffentliche Güter zu finanzieren. Entscheidend ist dann, dass wir die existierenden Steuer- und Transfersysteme als Ausdruck des bestehenden politischen Einflusses unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen interpretieren. Das ist ein Standardansatz in der modernen Wohlfahrtstheorie. Man kann dann aus dem beobachteten Steuersystem auf die „soziale Wohlfahrtsfunktion“ beziehungsweise auf die Verteilung des politischen Einflusses rückschließen und ableiten, wie sich das Steuersystem verändern wird, wenn die Welt sich ändert, der politische Einfluss der unterschiedlichen Gruppen aber bleibt, wie er ist.

PWP: Was kommt dabei heraus?

Fuest: Hauptergebnis dieser Analyse ist, dass die Progression des Steuer- und Transfersystems nicht zunehmen, sondern abnehmen wird, wenn der Staat mehr Steueraufkommen für andere als Umverteilungszwecke braucht. Das bedeutet, dass die starken Schultern die Lasten zwar durchaus mittragen, aber eben nicht in dem überproportionalen Maß, das viele erwarten. Ihre Steuern steigen zwar um höhere absolute Beträge, aber gemessen an ihrem Einkommen wächst der Beitrag der Steuerzahler mit höheren Einkommen unterproportional.

PWP: Wie kommt es dazu?

Fuest: Man kann sich das intuitiv wie folgt klarmachen: Der Staat braucht Steueraufkommen, um öffentliche Güter bereitzustellen oder Staatsschulden zu bedienen, und er verfolgt das Ziel umzuverteilen. In beiden Fällen ist zu bedenken, dass bei steigenden Steuerlasten Leistungsanreize reduziert werden und Steuerzahler ausweichen. Entscheidend ist jetzt, dass beide Ziele – Aufkommensbeschaffung und Umverteilung, miteinander konkurrieren. So kann sich der Staat beispielsweise mit der Mehrwertsteuer zwar sehr gut Einnahmen beschaffen, aber sie ist regressiv. Unter Verteilungsaspekten greift die Politik lieber auf die progressive Einkommensteuer zurück, aber hier werden Leistungsanreize stärker beeinträchtigt. Wenn der Staat sich aber in einer Situation befindet, in der er dringend mehr Aufkommen beschaffen muss, Umverteilungsziele beziehungsweise die Verteilung des politischen Einflusses verschiedener Gruppen sich aber nicht grundlegend verändert haben, wird die Politik am Ende eher eine proportionale Steuer wie die Mehrwertsteuer erhöhen. Deshalb wird die Politik Forderungen, dass die Lasten allein von den starken Schultern getragen werden sollen, nicht in die Praxis umsetzen.

PWP: Wen wird es stattdessen treffen?

Fuest: Wenn in der Verteilung das Niveau der Allerärmsten festgelegt ist, wie das in Deutschland mit der Sozialhilfe ja der Fall ist, die einen Inflationsausgleich erhält, ist es vor allem die Mittelschicht, die erheblich belastet wird. Die hohen Einkommen leisten in Euro gemessen einen größeren Beitrag, aber ihr Durchschnittsteuersatz steigt weniger.

PWP: Ist das Bemühen um verteilungspolitische Rücksichtnahme, wie es den politischen Forderungen zugrundeliegt, die unter anderem der Internationale Währungsfonds erhebt, deshalb falsch?

Fuest: Nein, sicherlich nicht. Es ist nur so, dass verteilungspolitische Ziele auch schon vor den aktuellen Krisen berücksichtigt wurden. Deshalb sind die Spielräume für weitere Umverteilung begrenzt. Dabei muss man unterscheiden zwischen kurzfristigen Maßnahmen zum Ausgleich der derzeit steigenden Energie- und Lebensmittelpreise und langfristigen Anpassungen des Steuer- und Transfersystems. Bei den kurzfristigen Maßnahmen gilt, dass die Politik die Kosten höherer Energiepreise nicht aus der Welt schaffen, sondern nur umverteilen kann. Daraus folgt, dass es keinen Sinn hat, wenn der Staat versucht, die gesamte Bevölkerung oder einen Großteil davon zu entlasten. Sinnvoll sind nur Hilfen für Gruppen, die durch die Preissteigerungen überfordert sind. Hilfen müssen also zielgenau sein, und darüber hinaus sollten sie keine falschen Anreize setzen.

PWP: Wie es zum Beispiel mit dem Tankrabatt geschehen ist.

Fuest: Der Tankrabatt war ein Beispiel für eine Politik, die wirklich völlig in die falsche Richtung ging, weil man nicht nur das Knappheitssignal der hohen Preise gestört hat, sondern zudem auch noch gerade solchen Haushalten half, die keine Unterstützung brauchten. Menschen mit hohen Einkommen profitieren mehr von Benzinpreissenkungen als andere, weil sie größere Autos haben und mehr fahren. Bei den Gaspreisen ist die Verteilungswirkung weniger ungünstig, aber man muss sich immer fragen, wem man mit einer politischen Maßnahme tatsächlich hilft.

PWP: Enthält diese Selektivität eigentlich schon eine implizite Verteilungskomponente? Mit anderen Worten: Ist zu befürchten, dass die hohen Gaspreise vor allem die ärmeren Menschen treffen, die beispielsweise in weniger gut sanierten Altbau-Mietshäusern wohnen, wo eine Umstellung besonders schwierig ist?

Fuest: Das kann eine Rolle spielen, aber es sind sicherlich nicht nur Mieter, die von steigenden Gaspreisen betroffen sind. Schließlich haben auch viele moderne Einfamilienhäuser Gasheizungen. Man kann allenfalls sagen, dass es auf dem Land nicht so viele Gasleitungen gibt und dass dort mehr mit Öl geheizt wird, sodass die städtische Bevölkerung wohl etwas stärker betroffen ist. Aber auch das Öl ist im Zuge der Krise ja teurer geworden, wenn auch nicht so extrem wie das Gas.

PWP: Wie sollte die Politik denn unter Berücksichtigung der Verteilungsproblematik in der aktuellen Krisensituation vorgehen? Wie sollten die Lasten denn aus Ihrer Sicht verteilt werden?

Fuest: Die Politik muss unter hohem Zeitdruck entscheiden, aber es ist wichtig, sich hinreichend Zeit zu nehmen, um zu analysieren, wer anfallende Lasten nicht selbst tragen kann oder soll und wo der Sozialstaat automatisch für Ausgleich sorgt. Spielen wir einmal durch, wie es aussehen würde, wenn man alles so laufen ließe wie bisher, also wenn man nicht gesondert eingriffe. Die Heizkosten von Hartz-IV-Empfängern übernimmt der Staat; sie haben infolge der gestiegenen Gaspreise insofern kein Problem. Außerdem sind die Ärmsten, die von Sozialtransfers abhängen oder Grundsicherung bekommen, durch den eingebauten allgemeinen Inflationsausgleich abgesichert. Es stellt sich nur die Frage, ob der Ausgleich jetzt schnell kommt oder ob die Leute erst einmal mehr bezahlen müssen und die Transfers erst später angepasst werden. Des Weiteren gibt es Menschen, die nicht von Sozialtransfers abhängen, aber nur niedrige Einkommen erzielen und mit Gas heizen müssen. Da muss man genauer hinschauen. Dass der Sozialstaat Bürgern hilft, die die Lasten schlecht selbst tragen können, ist eine politische Entscheidung, allerdings eine, die sich auch ökonomisch durchaus gut begründen lässt: Der Staat fungiert ja letztlich auch als kollektive Versicherung. Es ist aber immer wichtig, das Ganze zielgenau auszugestalten und nicht ausgerechnet den bereits Abgesicherten, den Begüterten oder den überhaupt nicht von den Lasten betroffenen Menschen etwas zuzustecken. Diese Gruppen muss man aus der Unterstützung herausnehmen.

PWP: Was halten Sie von der Idee einer Energiepauschale?

Fuest: Es kommt auf die Ausgestaltung an. Eine Energiepauschale, die unabhängig vom Einkommen gewährt wird, hat das Problem, dass sie vielen Haushalten zugutekommt, die die Lasten eigentlich selbst tragen können. Das kann man auffangen, indem man sie steuerpflichtig macht, wie es bei der im September ausgezahlten Energiepauschale ja auch passiert ist. Ähnliches gilt für Vorschlägen von der Art, dass jeder Haushalt, der mit Gas heizt, eine bestimmte Gasmenge zur Deckung des Grundbedarfs zu einem subventionierten Preis geliefert bekommt. Bei Strom gibt es ähnliche Vorschläge, die das gleiche Problem haben. Positiv ist hier nur, dass zumindest der Preis, den die Nachfrager für Verbrauch oberhalb des Grundbedarfs zahlen, nicht subventioniert wird. Sparanreize bleiben also erhalten. Für die Politik ist die Versuchung groß, Hilfen breit zu streuen, damit man sagen kann, man habe niemanden vergessen. Je größer die Zahl der Instrumente, die wir einsetzen, desto größer wird tendenziell auch der administrative Aufwand bei der Umsetzung. Die Beschränkung auf eine steuerpflichtige Energiepauschale hat den Vorteil, administrativ einfacher zu sein, sie ist allerdings auch nicht so zielgenau, wie man sich wünschen würde. Besonders herausfordernd ist Zielgenauigkeit bei Hilfen für Unternehmen, weil diese noch heterogener sind als Haushalte.

PWP: Lässt sich diese Zielgenauigkeit auf die Schnelle überhaupt hinbekommen?

Fuest: Das ist in der Tat nicht einfach, und gerade in Deutschland haben wir ja das Problem, dass die Digitalisierung des öffentlichen Sektors noch nicht so weit vorangeschritten ist, dass man zielgenaue Transfers zahlen kann. Trotzdem gibt es Instrumente, die es erlauben, zumindest annähernd die richtigen Gruppen zu erreichen. Teilweise ist das ja auch geschehen. Wohngeldempfängern bei den Heizkosten zu helfen, ist zielgenauer als allen zu helfen, die mit Gas heizen. Bei der Gaspreisbremse hat man das zusätzliche Problem, dass viele Haushalte keine Gasheizung haben und sich fragen, warum sie das Gas der anderen subventionieren sollten. Dem kann man entgegenhalten, dass die Gaspreise stärker gestiegen sind als zum Beispiel die Heizölpreise. Dennoch bedeutet eine Gaspreisbremse auch die sicherlich umstrittene politische Entscheidung, die Gruppe der Gasnachfrager auf Kosten der Allgemeinheit zu unterstützen. Unabhängig von derartigen Umverteilungsurteilen ist es allerdings entscheidend, die Preissignale und damit die Lenkungswirkung der Preise aufrechtzuerhalten. Letztlich geht es in dieser Krise darum, dass wir uns an massiv veränderte Knappheiten anpassen müssen. Wenn wir mehr Geld auf eine gegebene Menge Gas lenken, steigen nur die Preise. Leider hat die Umsatzsteuersenkung auf Gas diese Wirkung. Ohne deutliche Einsparungen auch im Sektor der privaten Haushalte droht im kommenden Frühjahr eine Gasrationierung in der Industrie, mit der sich die ohnehin anstehende Rezession massiv verstärken würde.

PWP: Das heißt aber, dass der Staat nicht direkt am Preis drehen darf, zum Beispiel mit Rabatten und mit Deckelungen.

Fuest: Die Preissignale tatsächlich in vollem Umfang wirken zu lassen, ist in dieser Krise allerdings nicht einfach. Das gilt besonders für Gas. Viele private Haushalte und Unternehmen haben mit den Versorgern Verträge mit festen Preisen zumindest für eine bestimmte Zeit abgeschlossen. Die Versorger wiederum erhalten das Gas von Unternehmen, von denen viele zwar ebenfalls mit ihren Lieferanten Festpreise vereinbart haben, aber wenn diese Lieferanten – vor allem natürlich Gazprom – die Lieferungen einstellen, müssen die Versorger das Gas woanders und zu sehr hohen Preisen einkaufen. Ihnen droht nun die Insolvenz. Wenn man das laufen ließe, würden die Kunden der betroffenen Unternehmen ihre Ansprüche auf Gasversorgung zu den alten Preisen verlieren. Viele lokale Versorgungsunternehmen würden insolvent, und letztlich würden die Endkunden ebenfalls nicht mehr zu den alten Bedingungen versorgt. Der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat recht, wenn er vor diesem Szenario warnt. Er versucht nun, mit Staatshilfen für Unternehmen wie Uniper eine Insolvenzwelle bei den Versorgern abzuwenden, die kein billiges Gas mehr aus Russland bekommen. Das schirmt allerdings die Endkunden von den erhöhten Gaspreisen ab und sorgt dafür, dass sie keinen Anreiz haben, auf die Gasverknappung zu reagieren. Außerdem sind die Staatshilfen sehr teuer. Habeck versucht nun, mit dem Instrument der Gasumlage das Preissignal weiterzugeben und die Endkunden an den Kosten der Krise zu beteiligen.

PWP: Die Gasumlage war also keine schlechte Idee?

Fuest: Richtig daran war, dass die erhöhten Preise an die Gasnachfrager weitergegeben werden sollten. Problematisch war dagegen, dass sie auch Kunden von Unternehmen treffen sollte, die nicht insolvent sind und ihre Verträge erfüllen könnten. Dafür gibt es bessere Instrumente. Inhabern von Altverträgen mit günstigen Konditionen könnte man anbieten, dass sie das erworbene Gas zu den derzeit sehr hohen Markpreisen verkaufen. Dann hätten sie erhebliche Anreize, ihren Gaskonsum zu senken, aber man würde sie nicht enteignen und ihnen auch nicht zusätzliche Lasten aufbürden.

PWP: Die Energiekrise könnte die ökologische Transformation in Deutschland stark beschleunigen – der Abschied von fossilen Brennstoffen erweist sich ja nun auch als politisch dringlicher als gedacht. Von „Green Finance“ zur Unterstützung dieser Transformation halten Sie aber nicht so viel, oder?

Fuest: Die aktuelle Krise hat sicherlich das Potenzial, die Umstellung auf erneuerbare Energien voranzubringen. Letztlich kommt es allerdings darauf an, mittelfristig konsequent für steigende CO2-Preise zu sorgen und die Infrastruktur zügig umzubauen. Ob die Politik das schafft, ist unklar. Es wird mit einer Vielzahl von Instrumenten und Ansätzen gearbeitet, aber nicht alle sind sinnvoll. Green Finance zum Beispiel ist ein problematisches Instrument zur Unterstützung dieser Transformation. Ich habe mich damit in einer aktuellen Forschungsarbeit gemeinsam mit meinem ifo-Kollegen Volker Meier beschäftigt. Wir untersuchen, was in einer Welt geschieht, in der es Green Finance gibt, in der man also Unternehmen, die nicht so CO2-intensiv arbeiten wie andere, subventioniert oder ihnen den Zugang zur Finanzierung erleichtert[3]. Die Analyse zeigt, dass Green Finance, wenn es mit klassischen Instrumenten der Umweltpolitik koexistiert und wenn diese Instrumente richtig eingesetzt werden, nur Schaden anrichten kann.

PWP: Warum?

Fuest: Eine Regierung maximiert niemals die Wohlfahrt, wenn sie Green Finance einsetzt, einfach weil es viel effizientere Instrumente gibt, zum Beispiel den Handel mit Emissionszertifikaten. In diesem Fall sorgt der Markt für Zertifikate dafür, dass hinreichend Kapital in den Sektor mit niedrigen CO2-Emissionen fließt. Eine zusätzliche Subventionierung verzerrt die Ressourcenallokation und senkt den allgemeinen Wohlstand. Das schädigt letztlich auch die Bereitschaft, Ressourcen für Klimaschutz einzusetzen.

PWP: Was ist mit dem Einwand, dass diese effizienteren Instrumente aber nicht stringent genug eingesetzt werden?

Fuest: Stimmt, dieses Argument hört man in der öffentlichen Debatte häufig. Es unterstellt implizit, dass die Politik gewissermaßen schizophren ist: Mit der einen Art von Instrumenten – zum Beispiel eben dem Handel mit Emissionszertifikaten – tut sie nicht, was nötig ist, aber mit der anderen Art, Green Finance, täte sie es sehr wohl. Das passt nicht zusammen. Es verweist allerdings auf das Problem, dass ein steigender CO2-Preis Verteilungswirkungen hat, die man nicht unterschätzen sollte. Es ist durchaus möglich, dass Klimaschutz, selbst wenn er von allen gewollt ist, scheitern kann. Es ist also wichtig, steigende CO2-Preise verteilungspolitisch zu flankieren. Dafür ist Green Finance aber nicht das richtige Instrument. Green Finance macht die Kosten des Klimaschutzes eher intransparent, treibt sie aber tatsächlich in die Höhe.

PWP: Wenn das so ist, warum wird Green Finance dann trotzdem eingesetzt?

Fuest: In der vorhin erwähnten Studie zeigen wir, dass es eine interessante politökonomische Erklärung dafür gibt. Eine Regierung mit starken ökologischen Präferenzen kann Green Finance einsetzen, um künftige Regierungen, die vielleicht weniger stark ausgeprägte ökologische Präferenzen repräsentieren, derart zu binden, dass die morgen gar nicht mehr anders können, als den einmal eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. Green Finance ist dann ein Instrument, das dazu dient, künftige Regierungen festzulegen.

PWP: Ein politisches „Commitment device“.

Fuest: Ja. Wenn ich schon heute die Struktur der Wirtschaft verändere und den verschmutzenden Anteil des Kapitalstocks reduziere, dann schrumpfen automatisch die Kosten einer ökologisch restriktiven Politik selbst für eine Regierung, die eigentlich gar nicht so umweltfreundlich orientiert ist. Ihr Kostenkalkül wird verändert. Eine solche Politik ist allerdings eine ziemlich teure Angelegenheit, weil sie wie erläutert mit erheblichen Effizienzverlusten einhergeht. Diese Vorgehensweise ist übrigens auch aus anderen Politikbereichen bekannt, zum Beispiel aus der Fiskalpolitik. Man denke nur an den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der hohe Staatsschulden machte, um Steuern zu senken. Politökonomen haben das als „Politik der verbrannten Erde“ bezeichnet. Selbst wenn künftige Regierungen Staatsausgaben beispielsweise für Soziales erhöhen wollen, können sie es nicht, weil das Geld für den Schuldendienst gebraucht wird.

PWP: Ist das vom Ergebnis her zwangsläufig schlecht? Hat es nicht auch sein Gutes?

Fuest: Das kann man sehr unterschiedlich bewerten. Auf der eine Seite kann man sich mit gutem Grund auf den Standpunkt stellen, dass von künftigen Bevölkerungen gewählte künftige Regierungen auch über die künftige Politik bestimmen sollen. Auf der anderen Seite ist aber beispielsweise für die Dekarbonisierung der Wirtschaft eine gewisse Bindung in die Zukunft hinein schon sehr wichtig – wer sollte denn sonst noch investieren? Das ist komplex.

PWP: Gibt es denn Abschätzungen, was eine solche Politik, künftige Regierungen zu binden, für die Wohlfahrt der jeweiligen Bevölkerung bedeutet? Wie teuer kommt das?

Fuest: Ich kenne keine Untersuchung, die das versucht. In einem Simulationsmodell könnte man das natürlich abschätzen, auch wenn derartige Schätzungen mit hoher Unsicherheit behaftet sind. Die grundsätzlichen Wirkungskanäle sind aber klar: Es kommt durch Green Finance unweigerlich zu Überinvestitionen, also zu einer Fehlleitung von Ressourcen in als grün klassifizierte Wirtschaftsbereiche, die dann übermäßig expandieren. Es gibt außerdem die Gefahr einer Blasenbildung im Zusammenhang mit grünen Assets am Finanzmarkt.

PWP: Das heißt, Sie argumentieren mit Blick auf die Auswirkungen dieses „Commitment device“ letztlich vor allem politökonomisch.

Fuest: Na ja, politökonomisch ist die Erklärung für die Verwendung von Green Finance als Commitment device. Das, was ich hier über die Folgen sage, ist ja eine rein wohlfahrtstheoretische Argumentation. Wenn ich die Kapitalallokation verzerre, kommt es nun einmal zu einem klassischen Wohlfahrtsverlust. Auch die Blasenbildung hat erst einmal nichts mit Politökonomik zu tun; da geht es vor allem um die Fehleinschätzung und falsche Bepreisung von Risiken. Die Politökonomik kommt eigentlich an anderen Stellen ins Spiel. Ein kritischer politökonomischer Aspekt ist in unserem Modell ausgeblendet: das Befüllen der taxonomischen Listen.

PWP: Also die Frage, welche Unternehmen in die förderungswürdige Kategorie fallen. Das ist ein administrativer – und zumeist sehr politischer – Akt.

Fuest: Genau. Es wird in einem politischen und administrativen Prozess darüber verhandelt und entschieden, welche wirtschaftliche Aktivität als nachhaltig klassifiziert wird und welche nicht. Da werden Listen aufgestellt, wie sie jeder Zentralverwaltungswirtschaft gut zu Gesicht stünden, und die Aktivitäten werden binär eingeordnet, ohne Abstufungen. Die Entwicklung eines Dieselmotors, der nur noch 2 Liter pro 100 km verbraucht, wäre demnach schon nicht mehr nachhaltig. Das ist Unsinn. Dieses Denken ist zutiefst planwirtschaftlich, und das stört mich kolossal. Außerdem wird hier Lobbyinteressen Tür und Tor geöffnet. In unserer Studie gibt es übrigens eine weitere politökonomische Konsequenz des Einsatzes von Green Finance als Commitment device. Es kommt zu einer verstärkten politischen Polarisierung.

PWP: Inwiefern?

Fuest: Lassen Sie mich ein konkretes Beispiel aus den Vereinigten Staaten geben. Dort gibt es keine staatlich vorgegebene grüne Taxonomie, aber viele Finanzunternehmen unterstützen von sich aus Green Finance. Nun hat etwa ein Dutzend der republikanisch geführten Bundesstaaten angekündigt, keine Geschäfte mit Fonds mehr abzuschließen, die Green Finance betreiben. Das hat eine gewisse Logik: Zum einen sind Ölstaaten wie Texas dabei, die an fossilen Industrien festhalten wollen. Man ist aber darüber hinaus der Meinung, dass Green Finance auf Dauer in eine unerwünschte Richtung führt, von der es dann kein Zurück mehr gibt. Das will man verhindern.

PWP: Aber was daran ist polarisierend?

Fuest: Unser Modell erklärt Polarisierung in der Umweltpolitik wie folgt. Wenn eine heutige grün denkende Regierung Green Finance macht, um künftige Regierungen zu binden, obwohl sie weiß, dass es ineffizient ist, dann bindet sie sich auch selbst und wird im Fall ihrer eigenen Wiederwahl selber noch grüner auftreten, als sie es tun würde, wenn die Wiederwahl gesichert wäre. Eine weniger ökologisch orientierte Regierung würde im Amt ganz anders vorgehen. Sie würde grüne Sektoren stärker besteuern, um künftigen grünen Regierungen den Klimaschutz zu erschweren. Im Fall einer Wiederwahl würde sie eine umso stärker anti-grüne Politik machen, weil sie ja auch für sich selbst die Kosten von Klimaschutz erhöht hat. Das ist es, woraus sich die Polarisierung ergibt und worin sie sich zeigt. In den Vereinigten Staaten sprechen Gegner und Befürworter von mehr Klimaschutz kaum noch miteinander. Unsere Analyse, die das Commitment problem betont, kann das erklären. Aber es gibt natürlich auch noch andere Erklärungen für Polarisierung.

PWP: Das ist ein interessanter Aspekt, der aber in der politökonomischen Tradition oder in der Theorie des Public Choice – die normativ ja das langfristige „Commitment“ des Staates befürworten, gern durch feste Verfassungsregeln – bisher kaum Berücksichtigung findet.

Fuest: Man hat sich da vielleicht ein bisschen zu sehr in Rechtsregeln verliebt und darüber hinaus aus dem Blick verloren, dass ein Commitment auch durch realwirtschaftliche Veränderungen erfolgen kann. Das hat aber meistens direkt sichtbare Kosten. Und eine Verfassungsregel kostet erst einmal nichts. Wenn ich im Bereich der Fiskalpolitik beispielsweise eine Schuldenbremse in die Verfassung schreibe, dann kostet das zunächst nichts, führt aber vielleicht zu dem angestrebten Ergebnis, dass künftige Generationen weniger Schulden haben.

PWP: Ganz kostenlos sind aber auch Verfassungsregeln nicht. An Tinte mag es wenig kosten, etwas ins Grundgesetz hineinzuschreiben, aber die Konstitutionalisierung hat ja Folgen, zum Beispiel in Form der Opportunitätskosten von Verboten.

Fuest: Ja, da stimmt, aber die Kosten entstehen nicht aus dem Bindungsinstrument selbst, sondern daraus, dass man nicht genau weiß, ob die Bindung immer sinnvoll ist. Es kann ja Situationen geben, in denen der Staat etwas gesellschaftlich Wünschenswertes tun will, es aber aufgrund dieser Regel nicht kann. Das gilt generell für Regeln, die staatliche Macht beschränken. Einen allwissenden, wohlwollenden Diktator will man keinesfalls mit Verfassungsregeln einschränken, aber real existierende Regierungen schon. Bei der deutschen Schuldenbremse hat man versucht, unerwünschte Bindung mit der Ausnahmeklausel zu verhindern. Übrigens haben wir in Deutschland nicht nur fiskalpolitisch eine Verfassungsregel, die uns verpflichtet, sondern auch klimapolitisch, wie wir seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. April 2021 wissen.

PWP: Damit wurde die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klima-Abkommens für verfassungsrechtlich verbindlich erklärt.

Fuest: Wie das Urteil genau auszulegen ist, ist umstritten. Die internationalen Verpflichtungen spielen aber eine wichtige Rolle. Dennoch ist fraglich, wie effektiv rein rechtliche Bindungen sind. Bei den europäischen Schuldenregeln zum Beispiel hat man den Eindruck, dass die Wirkung begrenzt ist.

PWP: Kann man denn ohne ein längerfristiges Festlegen des staatlichen Handelns, das auch spätere Regierungen bindet, sinnvollerweise auskommen?

Fuest: Längerfristige Festlegungen sind wichtig, schon deshalb, weil sonst Umsteuerungen, die größere private oder öffentliche Investitionen erfordern, gar nicht möglich sind. Warum sollte ein Unternehmen oder eine Kommune in Dekarbonisierung investieren, wenn unklar ist, ob der CO2-Preis künftig wirklich steigt? Aber ich bezweifle, dass Green Finance und die ihm in Europa zugrundeliegende staatliche Taxonomie der richtige Ansatz dafür ist. Neben den schon genannten Problemen sehe ich viele intelligente und verständlicherweise für die ökologische Sache brennende junge Leute, die ihr Talent damit verschwenden, überflüssige Marketingkonzepte und Messmethoden zum Thema Nachhaltigkeit zu entwickeln statt wirklich etwas für Umwelt- und Klimaschutz zu tun. Ich war übrigens kürzlich für eine Anhörung zu Green Finance im Europäischen Parlament, eingeladen als einer von etwa zehn Experten. Ich war der einzige Kritiker, die anderen waren durchwegs begeistert. Sie waren entweder Vertreter von einschlägigen Nichtregierungsorganisationen oder von Unternehmen und Verbänden, die von einer grünen Zertifizierung profitieren. Die fanden die Taxonomie natürlich gut, forderten aber noch mehr Kontrollen, Zertifikate und Bürokratie. Das ist kontraproduktiv.

PWP: Gerade junge Anleger denken oft sehr stark ökologisch und finden Taxonomien für ihre persönliche Entscheidung sehr hilfreich.

Fuest: Ich denke, dass auch viele ältere Anleger an ökologischen Themen sehr interessiert sind, und das Anliegen, für mehr Transparenz am Kapitalmarkt zu sorgen ist sicher richtig. Ich habe auch nichts gegen private Ökosiegel. Aber wenn der Staat eine Taxonomie vorgibt sowie auf dieser Basis Regulierungen und Zwangsmaßnahmen entwickelt, und wenn sogar die Geldpolitik und die Finanzmarktaufsicht in die ökologische Steuerung einsteigen, dann ist das etwas anderes. Unter anderem wächst die Gefahr der Blasenbildung und einer neuen Finanzkrise. Es mehren sich Forderungen, als grün klassifizierte Assets bei der Risikovorsorge zu privilegieren. Es besteht deshalb die Gefahr, dass bei Investitionen, die ein grünes Siegel tragen, erhebliche Risiken eingegangen werden, was irgendwann zu einer Krise führen könnte, die der letzten Finanzkrise ähnelt. Deshalb sehe ich diese ganze Entwicklung mit Sorge.

PWP: Noch einmal kurz zur politischen Polarisierung, was ich an dieser Stelle auch noch mit dem Problem des Rechtspopulismus verbinden möchte. Ist Ihre Lehre für die Politik also, natürlich neben vernünftiger Wirtschaftspolitik und angemessener Kommunikation, dass eine Regierung vor allem nicht der Versuchung erliegen darf, Nachfolgern die Hände zu binden?

Fuest: Nein, jede Regierung beeinflusst die Bedingungen, unter denen die Nachfolger arbeiten, und das Problem der Polarisierung ist viel breiter. Polarisierung ist gerade für Demokratien eine große Gefahr. In den Vereinigten Staaten ist sie mittlerweile so weit gediehen, dass Republikaner und Demokraten vielfach nicht mehr miteinander reden. Man muss versuchen, dem entgegenzuwirken, und natürlich setzt man da als liberaler Mensch im weitesten Sinne auf Vernunft und darauf zu versuchen, die Argumente der anderen Seite zu bedenken, auch wenn man sie nicht teilt.

PWP: Verstehen wir eigentlich schon gut genug, was der Boden ist, auf dem die Polarisierung gedeiht?

Fuest: Es gibt in diesem Zusammenhang mehrere wichtige Forschungsfragen. Eine der wichtigsten ist, ob politische Polarisierung tatsächlich, wie häufig behauptet, etwas mit Ungleichheit und dem Gefühl der persönlichen Benachteiligung zu tun hat, und wenn ja, dann in welcher Dimension. Geht es wirklich schlicht um den Wohlstand oder sind es mehr kulturelle, identitätsbezogene Aspekte? Ich denke, wie so häufig spielen viele Faktoren eine Rolle. Man muss sehr aufpassen, dieses Thema wird oft instrumentalisiert. Wer sowieso mehr Umverteilung will, hebt auf die ökonomische Ungleichheit ab, und wer selbst Angst vor Überfremdung hat, rückt kulturelle Aspekte in den Vordergrund. Dabei ist es sehr wichtig, dieses Phänomen gut zu analysieren, um es besser zu verstehen. In diese Richtung sind wir vor dem Hintergrund der Pandemie gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut Infas gegangen, indem wir ein breit angelegtes Surveyexperiment gemacht haben, das frappierende Ergebnisse zutage gefördert hat[4]. Wir haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu verschiedenen Aspekten von Corona befragt, beispielsweise zu ihrer Einschätzung der Gefahren der Krankheit oder den Kosten und der Erforderlichkeit von Lockdowns. Dann haben wir wissenschaftliche Erkenntnisse dazu angeboten und geschaut, ob die Befragten, wenn sie sich verschätzt hatten, ihre Meinung änderten. Es kam heraus, dass Leute in Westdeutschland unter bestimmten Bedingungen ihre Meinung anpassen, in Ostdeutschland nicht. Insbesondere Männer sind dort sehr festgelegt.

PWP: Wie ist das zu interpretieren?

Fuest: Man kann es mit der starken Rolle der rechtspopulistischen AfD in Ostdeutschland in Verbindung bringen, oder auch mit der DDR-Vergangenheit, in der ein allgemeines Misstrauen gegenüber Eliten gewachsen ist: Wer so lange systematisch belogen worden ist, der glaubt auch Wissenschaftlern nicht mehr. In einer weiteren Studie haben wir gefragt, ob die ökonomische Ungleichheit dabei eine Rolle spielt, dass die Leute AfD wählen[5]. Da wiederum kam heraus, dass es nicht die Ungleichheit von einer Person zur nächsten ist, also unter Nachbarn, die eine Rolle spielt, sondern vielmehr das Gefühl, in einer Region zu leben, die abgehängt wird. Es zeigt sich, dass der Unterschied der eigenen Region zum nationalen Durchschnitt in der Wirtschaftsentwicklung erhebliche Erklärungskraft für gute Wahlergebnisse der AfD korreliert hat. Dazu passt, dass nicht nur ärmere Menschen rechtspopulistisch wählen, sondern es geht sozioökonomisch durch alle Schichten.

PWP: In der Pandemie haben Sie selbst sich als Vertreter der No-Covid-Strategie positioniert; wohlgemerkt nicht der Zero-Covid-Strategie. Im Vordergrund stand die Senkung der Inzidenz, um die Pandemie kontrollierbar zu machen. Was ist heute Ihre Bilanz der Corona-Politik in Deutschland?

Fuest: Inhaltlich, so denke ich, hat sich inzwischen bestätigt, dass eine Niedriginzidenz-Strategie wirtschaftlich und medizinisch richtig ist. Das war auch vor etwa hundert Jahren schon so, bei der Spanischen Grippe. Diese Krankheit unterschied sich von Covid dadurch, dass mehr Menschen mittleren Alters betroffen waren, aber es hat sich gezeigt, dass auch damals diejenigen Regionen am besten durch die Krise kamen, die früh und mit Lockdown-Maßnahmen eingegriffen haben.[6] Wenn man auf Lockdown-Maßnahmen verzichtet und eine Pandemie einfach laufen lässt, sind nicht nur die Gesundheitsschäden, sondern auch die wirtschaftlichen Schäden schlimmer. Die Lage ändert sich natürlich, sobald wirksame Impfungen breit verfügbar sind. Eine wichtige Lehre aus der Pandemie ist, dass die Datenerfassung und -nutzung in Deutschland verbessert werden muss. Es ist ärgerlich, dass da nichts geschehen ist. Wenn die nächste Pandemie kommt, werden wir wieder im Blindflug agieren. Die Politik hat quasi nichts unternommen, um die Datenlage zu Corona zu verbessern. Diese Bräsigkeit ist eines der größten Versäumnisse der Politik.

PWP: Können Sie sich das erklären?

Fuest: Ich habe den Eindruck, man verspricht sich davon einfach zu wenig politische Vorteile. Es sieht fast so aus, als ob es im Fall einer Katastrophe, die über uns kommt, subjektiv besser ist, gar nichts zu tun, als Verantwortung für etwas zu übernehmen, was neu ist und vielleicht auch schiefgeht. Von Kommunalpolitikern, die mir auf meine Frage, warum sie denn nicht einfach vorangehen und in ihrer Gemeinde im Rahmen eines Pilotprojekts mehr testen lassen, habe ich die Antwort bekommen, dass man ihnen die erhöhte Inzidenz vorwerfen würde, die das wahrscheinliche Ergebnis eines solchen Vorgehens wäre. Auf diesem Niveau bewegt sich das politische Kalkül.

PWP: Das heißt, wenn man an der Datenlage zu Corona etwas ändern und auf dieser Grundlage eine bessere Politik haben will, dann muss man zentral handeln, also mit Ansage aus Berlin?

Fuest: Auf zentraler Ebene wird nicht unbedingt klüger gehandelt. Es würde schon reichen, wenn ein Bundesland voranschritte. Das ist ja der Vorteil des Föderalismus, dass vielleicht nicht alle die gleichen Fehler machen. Was mich enttäuscht hat, war aber, dass kein einziges Bundesland vorangeschritten ist, umfangreich getestet, die Daten mehr verwertet und sozusagen repräsentativ ein digitales Corona-Management entwickelt hat. Das ist ja keine hohe Anforderung. Aber da kam nichts. Wahrscheinlich haben alle gehofft, dass die ganze Sache in ein paar Wochen vorbei ist. Und keiner wollte irgendetwas riskieren.

PWP: Lassen Sie uns noch zu einem anderen großen Thema kommen, das Sie seit langem begleitet und das umgekehrt auch Sie begleiten: der Unternehmensbesteuerung. Seit Jahren gibt es Bestrebungen, insbesondere von der OECD, die Unternehmensbesteuerung international zu vereinheitlichen und mit einem Mindeststeuersatz dafür zu sorgen, dass den Staaten die Bemessungsgrundlagen nicht abhandenkommen. Aber das ist nicht so einfach, oder?

Fuest: Oh nein, die internationale Besteuerung wird immer komplizierter, sie hat im Laufe der Zeit einen Grad an „Nerdiness“ erreicht, der problematisch ist. Worum es geht, ist Folgendes: Multinational agierende Unternehmen können diverse Steuervermeidungsstrategien anwenden. Die Beträge werden gelegentlich überschätzt, aber das Problem besteht. In einer aktuellen Studie schätzen wir, dass Deutschland dadurch pro Jahr etwa 5 Milliarden Euro an Steueraufkommen verliert.[7] Das kann man nicht einfach so laufen lassen, denn sonst werden sich Normalbürger irgendwann fragen, warum sie eigentlich Steuern zahlen sollen. Fairerweise muss man sagen, dass auch Normalbürger legale Steuervermeidungsmöglichkeiten nutzen. Dennoch ist es richtig, dass die Politik gegen internationale Steuervermeidung vorgeht. Was man gemacht hat, um das Problem in den Griff zu bekommen, ist aber ziemlich kompliziert – deswegen „Nerdiness“.

PWP: Hätte man es denn tatsächlich einfacher haben können?

Fuest: Ja, zum Beispiel auf dem Weg über Quellensteuern.[8] Stattdessen hat man eine komplexe Besteuerung von Gewinnen in Niedrigsteuerländern und eine Verlagerung von Besteuerungsrechten in Marktländer beschlossen.

PWP: Wie kompliziert ist das Verfahren für die Unternehmen? Wissen die überhaupt, selbst wenn sie gar nicht groß Gewinne verschieben wollen, was sie machen müssen – oder ist da noch vieles unklar?

Fuest: Es gibt viele offene Fragen. Das gilt insbesondere für die sogenannte Säule 1 des OECD-Konzepts, die eine Verlagerung von Besteuerungsrechten in die Marktländer vorsieht, also die Länder, in denen Unternehmen nicht entwickeln und herstellen, aber verkaufen. Bislang fiel dort nur Umsatzsteuer an, aber jetzt sollen diese Länder auch an Gewinnsteuern beteiligt werden. Erfasst werden allerdings nur Unternehmen ab einem globalen Umsatz von 20 Milliarden Euro und oberhalb einer Umsatzrendite von 10 Prozent. Das sind nur sehr wenige Firmen. Aber es gilt auch für die Säule 2, die ab einem Umsatz von 750 Millionen Euro gilt. Säule 2 regelt die globale Mindeststeuer von 15 Prozent. Wenn beispielsweise ein deutscher Konzern eine Tochtergesellschaft in Irland hat, und deren Gewinn dort nur mit 12,5 Prozent besteuert wird, soll Deutschland künftig das Recht haben, die Differenz zur Mindeststeuer, also zusätzlich 2,5 Prozent als Steuer zu erheben. Ein Problem ist, dass es in Deutschland schon heute ähnliche Vorschriften gibt und dass außerdem gemäß einer nicht stark beachteten Regel, die erst spät eingefügt wurde, auch die irische Regierung diese Zusatzsteuer erheben kann, ohne ihr allgemeines Besteuerungsniveau anzuheben. Unter anderem deshalb werden die von der Politik angekündigten Mehreinnahmen von vielen Milliarden Euro in Deutschland wohl nicht realisierbar sein. Dennoch ist es prinzipiell richtig, zumindest zu versuchen, Steuervermeidung zurückzudrängen.

Das Gespräch führte Karen Horn. Clemens Fuest wurde von Max Kratzer fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Clemens Fuest: Wirtschaftspolitik, öffentliche Finanzen, Europa

Karen Horn

Clemens Josef Dominique Fuest trägt viel persönliche Information bereits im Namen. So verrät beispielsweise das westfälische Dehnungs-E im Nachnamen, oftmals als Zeichen für einen Umlaut fehlinterpretiert, die regionale Herkunft: Geboren wurde Fuest 1968 in Münster; im ostwestfälischen Geseke, einer kleinen Stadt zwischen Paderborn und Soest, wuchs er auf. Der dritte Vorname hingegen verweist auf eine zusätzliche familiäre Verbindung nach Frankreich: Dort kommt die Mutter ursprünglich her.

Clemens Fuests Eltern sind Lehrer und unterrichteten Deutsch und Französisch. Schon die Eltern der Mutter waren Germanisten gewesen, die das Deutschland der Dichter und Denker sehr liebten. Der Vater stammt aus einfachen Verhältnissen; er hat zehn Geschwister und war in seiner Familie der erste, dem eine akademische Ausbildung zuteilwurde. Auch wenn dessen jüngerer Bruder, Clemens Fuests Onkel Winfried, später noch auf dem zweiten Bildungsweg Volkswirtschaftslehre studierte, war die Ökonomie kein daheim als wichtig erachtetes Thema.

In der Schulzeit wurde Fuests ökonomisches Interesse durch ein Börsenspiel gesteigert, das die örtliche Sparkasse organisiert hatte. Ein weiterer Impuls war seine Faszination für Geschichte: Über Themen wie Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise erstreckte sich diese Neigung zunehmend auch auf die Wirtschaft als solche. Als am Ende der Schulzeit schließlich die Entscheidung für ein Studienfach anstand, nahm ihn für die Wirtschaftswissenschaften auch ein, was er in der Berufsbildbroschüre „Wirtschaftsprüfer“ las, die ein Vertreter des Arbeitsamts in der Schule verteilt hatte. „Da stand drin, dass man damit ziemlich Geld verdienen kann und eine sichere Anstellung hat“, erzählt Fuest und erklärt: „Ich hatte schon Sorgen um meine Zukunft, weil damals die Arbeitslosigkeit so hoch war.“ Deshalb zog er auch nicht ernsthaft in Erwägung, es den Eltern gleichzutun und Pädagoge zu werden; die Beschäftigungsaussichten für Lehrer waren seinerzeit besonders schlecht.

Gemeinsam mit seinem großen Bruder ging Fuest dann 1987 an die Ruhr-Universität Bochum, wo man sich noch nicht zwischen Volks- und Betriebswirtschaftslehre entscheiden musste. Zu diesem Zeitpunkt schwebte ihm vor, dass er eines Tages Manager werden könnte. Nach dem Vordiplom wechselte er an die Universität Mannheim, weil die Hochschule einen guten Ruf hatte und weil es dort

die seltene Möglichkeit gab, zusätzlich zur Volkswirtschaftslehre als Wahlfach Romanistik zu belegen. Fuest schätzt sich glücklich, dass er damals auf Professoren stieß, die, wie er sagt, „wirklich nah an der Forschungsfront“ waren, allen voran Heinz König, „eine kantige Persönlichkeit und ein ganz außerordentlich guter Ökonom“. Dort habe er viel mathematisches Handwerkszeug gelernt.

Außerdem beschäftigte er sich mit der Bankbetriebswirtschaftslehre, und ihm schwebte nunmehr vor, nach dem Diplom in die Bankenabteilung der Unternehmensberatung McKinsey zu gehen. Schließlich entschied er sich aber doch erst einmal für die Promotion: „Für die Karriere kann das nichts schaden, dachte ich mir“. Er ging dafür zum liberalen Ordnungspolitiker Christian Watrin ans Institut für Wirtschaftspolitik (IWP) der Universität Köln. Diese Phase war für ihn entscheidend – gewiss schon für die normative Prägung, aber auf jeden Fall mit Blick auf den Berufswunsch und die Spezialisierung. Bei Watrin, so erzählt er, habe er gesehen, wie viele Freiheiten und Möglichkeiten das Professorenleben biete. Auf dessen Bitten übernahm Fuest ein verwaistes Projekt des IWP, in dem es um eine Fiskalverfassung für die Europäische Union ging. Er war damals skeptisch, dass sich die No-Bailout-Klausel im Maastricht-Vertrag auf Dauer halten lassen würde – was sich 15 Jahre später, in der Eurokrise, als hellsichtig erwies. Auf jeden Fall waren für Fuest mit diesem Dissertationsthema die akademischen Weichen in Richtung Finanzwissenschaft gestellt – „ein kompletter Zufall“. In diesem Zusammenhang begann er auch, sich intensiv mit dem Thema Steuerwettbewerb zu befassen, das ihn dann nicht mehr losließ.

Nach der Promotion 1995 kam er in Kontakt mit dem Finanzwissenschaftler Bernd Huber von der Ludwig-Maximilians-Universität München und beschloss, sich bei diesem nun auch noch auf das Abenteuer der Habilitation einzulassen. In seiner Habilitationsschrift ging es um das Verhältnis zwischen Steuerpolitik und Arbeitslosigkeit. Seine Münchner Zeit empfand Fuest als höchst fruchtbar, auch wegen der Aktivitäten am Center for Economic Studies (CES), das der damalige – langjährige – Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn ins Leben gerufen hatte. „Dort traf man hochkarätige Wissenschaftler aus aller Welt, die man nur aus den Journals kannte.“ Fuest ist voll des Lobes für Sinns Bemühungen um den akademischen Nachwuchs.

Nach der Habilitation wurde Fuest 2001 auf eine C4-Professur an der Universität Köln berufen, wo er das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut leitete. Nach sieben Jahren ergab sich die Chance, ins Ausland zu gehen und als Professor für Unternehmensbesteuerung an das von Michael Devereux gegründete Oxford Center for Business Taxation zu wechseln. „Die Position in Köln aufzugeben, war nicht ganz einfach“, erinnert sich Fuest. „Es bedeutete einen Wechsel in den Angestelltenstatus.“ Doch er nahm die reizvolle englische Herausforderung an, kurz vor Ausbruch der internationalen Finanzkrise, an die sich die Euro-Krise anschloss. Zugleich blieb er aber Leiter des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts in Köln und amtierte von 2007 bis 2010 zusätzlich als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium. Die Zeit in Oxford war für ihn, wie er sagt, eine ausgesprochen schöne Zeit. Die Atmosphäre war global; die Anbindung an die angesehene Institution öffnete ihm viele Türen. An der Universität genoss er großes Vertrauen, war frei von Lehrverpflichtungen und konnte sich intensiv der Forschung widmen – „aber ich habe trotzdem unterrichtet, das mache ich gern“.

Als er im Jahr 2013 aufgefordert wurde, sich für die Nachfolge von Wolfgang Franz als Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und den damit verbundenen Lehrstuhl an der Universität Mannheim zu bewerben, begann für Fuest wieder etwas Neues. Er bekam den Zuschlag und machte damit „noch einmal einen wichtigen persönlichen Entwicklungsschritt“, erklärt er, vor allem in Richtung Management und öffentliche Politikberatung. Er blieb zwar stark in der Forschung aktiv, aber in der neuen Rolle gab es doch noch einiges hinzuzulernen. Eine Organisation von der Größe des ZEW mit damals 170 Angestellten und einem Budget von rund 20 Millionen Euro forderte eine andere Führungskultur und Kommunikation als ein universitäres Institut mit gerade einmal 10 oder 20 Personen. Fuests Zugang zur Aufgabe eines Institutsleiters ist ausgeprägt unternehmerisch; er will gestalten. Ihn begeistert, dass man in einem großen Wissenschaftsbetrieb der Forschung zu einem als wichtig identifizierten Thema wesentlich mehr Ressourcen widmen kann als sonst und mit den Ergebnissen dann auch in der öffentlichen Debatte mitunter einiges zu erreichen vermag.

Nach drei Jahren zog es Fuest weiter an die Ludwig-Maximilians-Universität München und ans noch etwas größere ifo-Institut als Nachfolger von Hans-Werner Sinn, der die Einrichtung seit 1999 geleitet, saniert und zum führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut ausgebaut hatte. Mit seinem in der Öffentlichkeit weiterhin stark präsenten, von ihm persönlich und fachlich geschätzten Vorgänger kommt er sich nach eigenem Bekunden keineswegs ins Gehege; Meinungsunterschiede halte man aus. „Das ifo ist eine tolle Aufgabe“, sagt Fuest. Er hat das Institut seit 2016 behutsam umstrukturiert, das Angebot erweitert und jüngst eine Tochtergesellschaft in Fürth ins Leben gerufen, das Ludwig Erhard ifo Zentrum für soziale Marktwirtschaft und Institutionenökonomik.

In seinen zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen, die stets von großer Klarheit und Prägnanz gekennzeichnet sind, zeigt Fuest ein deutliches ordnungspolitisches Profil und liberale Gesinnung. Dennoch ist es ihm sichtlich unangenehm, wenn er das ideologische Label „ordoliberal“ angeheftet bekommt. Das tiefsitzende systematische Misstrauen gegenüber dem Staat, das sich zumindest bei manchen Leuten mit den radikaleren Spielarten des Liberalismus verbindet, teilt er so nicht. Fuest ist nüchtern, abgewogen. Zudem müsse man sich als Wissenschaftler bemühen, das fachliche Argument von normativer Bewertung zu trennen, findet er. Auch deshalb mag er sich gerade wissenschaftlich nicht auf die Ordnungstheorie und -politik reduzieren lassen. In der herkömmlichen Ordnungstheorie komme im Übrigen die Empirie noch immer viel zu kurz, bemängelt er. Vor allem aber legt er Wert darauf, stets klassische wohlfahrtstheoretische Begründungen geben zu können, selbst wo er wie viele Ordoliberale letztlich politökonomisch argumentiert. „Man muss das alles zusammenbringen.“

Online erschienen: 2022-10-08
Erschienen im Druck: 2022-10-07

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 6.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2022-0038/html
Scroll to top button